Tagungsgedanken: Niedersachsen und Bremen 80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus

Von: Christian Hellwig
Am 12. und 13. Juni 2025 fand in der Ada-und-Theodor-Lessing Volkshochschule Hannover die Jahrestagung der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen (HIKO) statt. Anlass und Thema der von der HIKO gemeinsam mit dem Institut für Didaktik der Demokratie, der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten sowie dem ZeitZentrum Zivilcourage organisierten Tagung waren der 80. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Dabei wurden bei der von Ministerpräsident Olaf Lies mit einem Grußwort eröffneten Tagung zum einen der aktuelle Stand der Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie aktuelle Perspektiven bei der Erforschung von Demokratisierungsprozessen nach 1945 diskutiert. Zum anderen richtete sich der Blick auch in die Gegenwart und rückte aktuelle Themen und Formen des Erinnerns in den Fokus. Dabei wurde an beiden Tagungstagen immer wieder deutlich, dass der wissenschaftliche Diskurs sowie die von den Teilnehmer*innen geführten Debatten stets auch vor dem stets latent mitschwingenden Eindruck einer erinnerungskulturellen Verschiebung geprägt waren. Die assoziative Auseinandersetzung mit dieser Beobachtung steht im Zentrum dieses Beitrages, der als essayistischer Text somit kein klassischer Tagungsbericht ist.1
In der 2013 veröffentlichten und 2020 in erweiterter und aktualisierter Neuauflage erschienenen Interventionsschrift schreibt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann von einem neuen Unbehagen an der Erinnerungskultur.2 Bei dem Titel handelt es sich um eine Zustandsbeschreibung, die – so scheint es – im Jahr 2025 gegenwärtiger denn je ist. Im Mai dieses Jahres wurde in unzähligen Gedenkveranstaltungen am 8. Mai dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und der Befreiung vom Nationalsozialismus gedacht. Erinnerungskulturen sind überaus wandelbar und stetigen Aushandlungsprozessen unterworfen – auch dafür ist dieser Gedenktag ein Beispiel. Richard von Weizsäckers geschichtsträchtige Rede vom 8. Mai 1985 gilt bis heute eben deswegen als zentraler Meilenstein der deutschen Erinnerungskultur, weil er mit der Beschreibung des Kriegsendes als einen Tag der Befreiung einen wirkmächtigen erinnerungspolitischen Akzent setzte, der bis in die Gegenwart nachhallt.

Und dennoch verschieben sich aktuell Perspektiven und Debatten. Das damit verbundene Unbehagen und die damit einhergehenden Unsicherheiten sind in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung deutlich wahrnehmbar. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine stellt zweifelsohne Fragen „an das in Deutschland vorherrschende Bild der Geschichte des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt daran, welche Bedeutung wir dem 8. Mai 1945 zuschreiben.“ Wie umkämpft und fragil die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust nach wie vor ist, zeigt sich auch infolge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 und der damit verbundenen Instrumentalisierung von Geschichte, um die gegenwärtige israelische Staatsführung zu kritisieren. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngsten Wahlerfolge der AfD lässt sich zudem seit einigen Jahren der Versuch beobachten, von rechter Seite den erinnerungskulturellen Grundkonsens der bundesdeutschen Gesellschaft zu verändern und den Diskurs zu verrücken. Unter dieser Perspektive gibt eine jüngst von der ZEIT durchgeführten repräsentativen Umfrage Anlass zur Sorge: So stimmten 55 Prozent der Teilnehmer*innen der Aussage „80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten wir Deutschen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen“ ‚eher‘ oder ‚voll und ganz‘ zu.
Ob die Ergebnisse dieser Umfrage Ausdruck einer sich zunehmend etablierenden „Schlussstrich-Mentalität“ oder einer sich weiter zuspitzenden gesellschaftlichen Polarisierung sind, wird sich in letzter Konsequenz noch erweisen müssen. Klar ist: Die aktuellen Debatten fallen in eine nun endgültig eingeläutete Phase des Verschwindens der letzten Zeug*innen der Erlebnisgeneration. Am 9. Mai 2025 starb Margot Friedländer nur einen Tag nach den zentralen Feierlichkeiten und Gedenkreden zum Tag der Befreiung. Als Igor Levit hinter den Kulissen des deutschen Fernsehpreises vom Tod Friedländers erfuhr, verwarf er die ursprünglich vorgesehene Laudatio für die beste Filmmusik und setzte auf der Bühne zu einer spontanen Würdigung an. Levit schuf dabei einen Moment der Nachdenklichkeit und Mahnung. Mit Blick auf Margot Friedländer ließ er die Frage, was von einem Menschen bleibt, der nicht mehr ist, offen und verwies darauf, dass sich dies noch zeigen müsse.

Damit konfrontierte Levit das Auditorium mit einer Frage, die implizit auch im Rahmen der Jahrestagung stets mitgedacht und diskutiert wurde. Es war sehr erhellend, im Rahmen der Podiumsdiskussion am Abend des ersten Veranstaltungstages sowie der damit korrespondierenden Tagungssektion am Folgetag den gegenwärtigen Zustand und die damit verbundenen Aufgaben aktueller erinnerungskultureller Debatten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. Dabei wurde ein weiteres Mal deutlich, wie wichtig es ist, unterschiedliche Ansätze, Erfahrungen und Sichtweisen von Geschichtswissenschaftler*innen, Geschichtsdidaktiker*innen sowie Akteur*innen der historisch-politischen Bildung in Museen, Gedenkstätten, Lernorten und Schulen miteinander zu verbinden. Dabei zeigte sich zum einen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus keinesfalls abschließend erforscht ist und zum anderen weiterhin der Bedarf besteht, nach 1945 vorhandene und sich entwickelnde Demokratisierungsvorstellungen zu historisieren und dabei marginalisierte Gruppen stärker im Sinne einer zeitgemäßen erinnerungskulturellen Auseinandersetzung in den Blick zu nehmen.
Daran anknüpfend wurde in mehreren Vorträgen der Tagung die Notwendigkeit betont, die Bedeutung von Sprache und damit verbundener Narrative quellenkritisch bei der Erforschung historischer Prozesse in einem noch stärkeren Maße in den Vordergrund der historischen Analyse zu rücken. Das Sprechen und Handeln sowie damit verknüpfte Selbstzuschreibungen der zu untersuchenden Akteur*innen in den Blick zu nehmen, leistet einen wichtigen Beitrag, um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu historisieren sowie damit (Dis)Kontinuitäten offenzulegen. Dabei wurden von den Referent*innen nicht nur Demokratisierungsprozesse im Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur in die frühe Bundesrepublik problematisiert, sondern es wurden zudem mit Blick auf die Erforschung auf den Nationalsozialismus und in Anknüpfung damit verbundener aktueller Forschungsdebatten anhand des Vortrags von Felix Matheis zu den „Hanseaten im „Osteinsatz“ Verbindungen zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Denkmustern aufgezeigt. Damit war die Tagung nicht zuletzt ein Plädoyer für die Relevanz historischer Forschung, mit der sich jedoch zugleich auch die Mahnung verbindet, nicht nur die Produktion von Wissen, sondern auch den zeitgemäßen Transfer dieser Erkenntnisse in die Gesellschaft als ebenso wichtige Aufgabe anzuerkennen.
- Der Tagungsbericht wird nach Veröffentlichung in diesem Text nachträglich verlinkt. ↩︎
- Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, 4. Auflage, München 2020. ↩︎
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iddredaktion (2. Juli 2025). Tagungsgedanken: Niedersachsen und Bremen 80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus . Abseits der Fußnote. Abgerufen am 11. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14980

