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„Freizügigkeit für alle? Institutioneller Rassismus und EU-Migration“ – ein Bericht

Von: Projekt Institutioneller Antiziganismus

Unter dem programmatischen Titel „Freizügigkeit für alle? Institutioneller Rassismus und EU-Migration“ veranstaltete das Institut für Didaktik der Demokratie, in Kooperation mit dem Bildungsforum gegen Antiziganismus, der Hochschule Hannover und der Kommunalen Hochschule für Verwaltung in Niedersachsen eine Vortragsreihe, die sich mit den Mechanismen und Wirkungsweisen des institutionellen Rassismus im EU-Binnengrenzregime befasste.

Die fünf Online-Veranstaltungen fanden im Zeitraum Februar bis März 2022 statt und erfreuten sich einer ausgesprochen großen Resonanz. Bis zu 110 Teilnehmende pro Veranstaltung nutzten den Rahmen für inhaltlichen Austausch sowie Diskussion und machten damit die Wichtigkeit des Themas deutlich. Die einzelnen Vorträge können nun auf unserer Website nachgehört werden. Es folgt ein schlaglichtartiger Rückblick auf die Veranstaltungsreihe.

Ausgeschlossen oder privilegiert?

In der ersten Veranstaltung, „Ausgeschlossen oder privilegiert? Oder: Wie das Sozialrecht zum Instrument der ‚Migrationskontrolle‘ wird“ berichtete Claudius Voigt von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) in Münster, wie als Gegenbewegung zu den erweiterten Bewegungsregelungen durch die EU-Bürgerschaft (Stichwort Freizügigkeit) neue Begrenzungsregime installiert wurden, die sich zunehmend in Sozialbehörden manifestieren. Voigt legte an vielen Praxisbeispielen dar, wie sich das Sozialrecht im Kontext von EU-Migration schrittweise zu einem Instrument der „Migrationskontrolle“ entwickelt – und inwiefern sich die Sozialbehörden zu einer Art „neuen Grenzpolizei“ entwickeln. Der Vortrag wurde von Georgi Ivanov von der communitybasierten Anlauf- und Beratungsstelle Nevo Drom aus Berlin kommentiert. Er zeigte auf, wie die Aushöhlung der sozialen Rechte von Unionsbürger*innen bestimmte Gruppen systematisch betrifft.

Umkämpfte Stadtbürgerschaft

Die anschließende Veranstaltung, „Umkämpfte Stadtbürgerschaft: Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration“, erörterte das Phänomen der Stadtbürgerschaft aus einer wissenschaftlichen Perspektive und versuchte hierbei mit der politischen Idealisierung des Konzepts als einheitlich inkludierendes Mittel aufzuräumen. Die Referentin Lisa Riedner vom Münchener Institut für empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie kritisierte in diesem Zusammenhang die starre Gegenüberstellung von inklusiver Stadtbürgerschaft vs. exklusiver Staatsbürgerschaft. Am Beispiel ihrer Forschung in den Städten Frankfurt und München veranschaulichte sie, dass diese Dichotomie einer empirischen Überprüfung keineswegs standhält. Im Kontext der erweiterten Europäischen Union kann vielmehr eine Verlagerung von Grenzsicherungsfunktionen in den städtischen Raum beobachtet werden. Der Vortrag wurde durch einen Kommentar der Kulturanthropologin und Migrationsforscherin Sabine Hess begleitet und unter Bezugnahme auf die Grenzregimeforschung eingeordnet.

Grenzen der Ausbeutung?

In der dritten Veranstaltung, „Grenzen der Ausbeutung? EU-Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit“, beleuchtete Peter Birke vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen den Zusammenhang von entwerteter Arbeit und rassistischer Abwertung. Anknüpfend an die mediale Skandalisierung von gesundheitsgefährden Arbeitsverhältnissen im Zuge der Covid-19-Pandemie und auf Basis seiner mehrjähriger Forschungsarbeit über Arbeitsprozesse und Arbeitskämpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie diskutierte er gesellschaftliche Spaltungslinien angesichts von Arbeitskräftemangel und rassifizierter „Ausbeutung“ migrantischer Arbeiter:innen. Im Kontrast zu der vielfach unhinterfragten Annahme, dass Erwerbsarbeit per se zu gesellschaftlicher Teilhabe beitrage, betonte der Referent den Sachverhalt, dass Arbeit ohne soziale Rechte vielmehr Abhängigkeitsverhältnisse und Ausgrenzung verstärken. Der Vortrag wurde durch einen Kommentar von Anda Nicolae-Vladu, von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), begleitet. Sie wies insbesondere darauf hin, dass migrantisierte Arbeiter:innen selbst innerhalb dieser Kreislaufsysteme der schweren Arbeitsausbeutung keine wehrlosen Subjekte sind, sondern durchaus kleinere und größere, erfolgreiche und weniger erfolgreiche Kämpfe für die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen führen.

„Politik und Verwaltung sagen Problemimmobilien der Kampf an“

Die anschließende vierte Veranstaltung, „‚Politik und Verwaltung sagen Problemimmobilien den Kampf an‘ – Antiziganistische Diskurse und die Etablierung neuer Politiken am Beispiel der Stadt Göttingen“, widmete sich den Wirkungsweisen und Mechanismen des institutionellen Rassismus im städtischen Raum. In seinem Vortrag analysierte Christian Hinrichs, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Göttingen und Ko-Autor der Studie „Mechanismen des institutionellen Antiziganismus“, die antiziganistischen Bedeutungsebenen des sogenannten Problemimmobiliendiskurses am Beispiel der Stadt Göttingen. Darüber hinausgehend beleuchtete er auch die mit diesem Diskurs verbundenen Formen territorialer Stigmatisierung und sozialräumlicher Segregation. Der Vortrag wurde durch einen Kommentar von Kenan Emini und Sandra Goerend vom Roma Center aus Göttingen begleitet.

Grenzenlose Mobilität – begrenzende Institutionen?

Die Veranstaltungsreihe wurde schließlich durch den fünften Vortrag „Grenzenlose Mobilität – begrenzende Institutionen? Wie sich Schule und Quartier um ‚die Einwanderung aus Südosteuropa‘ arrangieren“ abgeschlossen. Sich frei im EU-Binnenraum zu bewegen und niederlassen zu können, gehört zum programmatischen Selbstverständnis des politischen Projekts der EU. Demgegenüber berichtete die Sozial- und Bildungswissenschaftlerin Karin Cudak am Beispiel der Institution Schule von eingeschliffenen Mustern und institutionellen Exklusionspraktiken, die bereits bestehende Ungleichheitsverhältnisse (re-)produzieren. Der Vortrag wurde durch einen Kommentar von Guillermo Ruiz vom Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma begleitet.

Institutioneller Rassismus im EU-Binnengrenzregime

Freizügigkeit für alle? Diese Frage bewegt seit der sogenannten EU-Osterweiterung nicht nur die mediale Öffentlichkeit, sondern sie beunruhigt darüber hinaus auch Politik und Behörden. Durch die kritische Einordnung von Wissensbeständen und Praktiken in unterschiedlichen institutionellen Feldern (Wohnen, Arbeit, soziale Rechte und Schule) konnte im Rahmen der Veranstaltungsreihe ein institutioneller Rassismus im EU-Binnengrenzregime sichtbar gemacht werden, der nachhaltig die gesellschaftliche Teilhabe stigmatisierter Unionsbürger:innen beeinträchtigt. Dieser institutionelle Rassismus besteht aus einer komplexen Einheit von einschlägigen Problemdiskursen, rassistischen (und antiziganistischen) Wissensbeständen sowie diesbezüglichen institutionellen Ausschlusspraktiken – und wirkt auch unabhängig davon, ob einzelne Institutionen oder Behördenmitarbeiter:innen bewusst rassistisch agieren oder nicht. Gerade dieser Sachverhalt, das machten auch die Diskussionen im Rahmen der einzelnen Veranstaltungen immer wieder deutlich, stellt eine besondere Schwierigkeit für Aufklärung und Widerstand dar.

Vielen Dank an alle Teilnehmenden sowie Kooperationspartner:innen und die Förderung aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab im Rahmen der Ausschreibung „Zukunftsdiskurse“.


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OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
iddredaktion (29. Juli 2022). „Freizügigkeit für alle? Institutioneller Rassismus und EU-Migration“ – ein Bericht. Abseits der Fußnote. Abgerufen am 10. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ptiy


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