Koloniale Spuren in Hannover. Interview mit den Ausstellungskurator*innen Thomas Schwark und Katharina Rünger

Von: Karolin Quambusch und Ben-Adrian Rieger
Vom 13. Juli 2022 bis zum 31.10.2023 können sich Besucher*innen im Historischen Museum auf eine Spurensuche zu Hannovers kolonialer Vergangenheit begeben. Die Ausstellung „Von goldenen Kutschen und kolonialer Vergangenheit: Hannover, England und die Sklaverei“ wechselt dabei die Perspektive und fragt unter anderem, welche Rolle die Beziehungen zu Großbritannien in der kolonialen Vergangenheit gespielt haben und wie Personen abseits von König*innen in den Mittelpunkt der Erzählungen gerückt werden können. Im Interview sprechen Karolin Quambusch und Ben-Adrian Rieger vom IDD mit Dr. Thomas Schwark und Katharina Rünger vom Historischen Museum über die Ausstellung.
IDD: Haben Sie vielen Dank, dass wir hier sein dürfen! Fangen wir doch direkt an: Welche drei Schlagworte verbinden Sie mit der Ausstellung?
Schwark: Wir haben zum einen Perspektivwechsel gewagt. Wir haben uns an alten Erzählungen orientiert, die durch neue ergänzt werden müssen. Und wir sind von aktuellen Debatten bewegt worden. Debatten, die hier bei uns stattfinden, die aber vor allen Dingen in unserer Partnerstadt Bristol stattfinden. Denn wir haben für manches in der Stadtgesellschaft Hannovers und in Deutschland noch ganz wenig Anhaltspunkte gefunden. Doch das Bewusstsein dafür und die Arbeit daran wächst täglich. Wir haben dann die Fühler ausgestreckt zu unserer Partnerstadt, denn da gibt es eine lange Tradition, sich mit Kolonialismus auseinanderzusetzen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Sklaverei. Und dann als Drittes kommt die Orientierung an Interessen in der Stadtgesellschaft dazu, in der Community, an Leuten, die aufgrund ihrer eigenen Biografie, ihrer eigenen Familien- und Herkunftsgeschichte, Ansatzpunkte und Anhaltspunkte haben, um sich in einer solchen Diskussion einzubringen.
Rünger: Ich würde das mit den drei Schlagworten aus unserem Leitbild zusammenfassen wollen: aktuell, relevant und partizipativ. Partizipativ nicht nur als oberflächliches Angebot: Klebt in der Ausstellung mal eure Zettelchen an die Wände, wenn ihr wollt, malt was darauf, schreibt was darauf. Sondern partizipativ auch wirklich ernstgemeint im Austausch mit der Community, im Austausch mit der Stadtgesellschaft. Das zeigt sich in unseren Formaten und in unseren Angeboten.

IDD: Was war eigentlich der Auslöser, sich mit diesem Thema zu befassen? Sie erwähnten, dass es in Hannover noch wenig Forschung zu dem Thema gibt, zum anderen haben Sie durch die Partnerstadt gesehen, was in England schon umgesetzt wurde.
Schwark: Ich habe mich in all den Jahren meines Tuns hier immer mit der Personalunion auseinandergesetzt – von Anfang an. Und ich glaube, dass diese Zeit der Verbindung mit Großbritannien für Hannovers Landes- und Stadtgeschichte ein besonderes Kennzeichen ist. Die Zeit der Personalunion, diese frühneuzeitliche Phase, hebt sich in Hannover heraus und will immer wieder betrachtet werden. Und die Perspektive darauf war immer eine mit Stolz: Wir waren König. Und Großbritannien steigt auf – zur Weltmacht. Da ist nie problematisiert worden, was Weltmacht überhaupt heißt und was damit ausgedrückt ist: dass das alles Grundlagen hat, vor allem ökonomische, die bei der Sklaverei und Versklavung eine große Rolle spielen – die Kollegen sprechen ja auch von Versklavungsökonomie – daran ist Großbritannien nicht nur beteiligt gewesen, sondern in eine führende Rolle gekommen. Und auf dem Thron saßen Hannoveraner. Deshalb gibt es aus meiner Sicht eine landesgeschichtlich begründete Verpflichtung, sich damit auseinanderzusetzen. Auch mit den unterschiedlichen Dimensionen. Vielleicht kommen in den nächsten Jahren noch andere Dimensionen dazu, aber jetzt sind wir hoch motiviert durch die gesellschaftliche Debatte zum Thema Rassismus und Kolonisation und vor allem decolonise, das Thema vertiefend zu betrachten.
IDD: Das ist sicherlich auch eine Herausforderung gewesen, dass so eine aktuelle Debatte während des Konzeptionsprozesses stattfand. Würden Sie aber sagen, Sie hatten auch noch mit mehreren Herausforderungen in der Konzeption zu kämpfen?
Rünger: Wir haben Herausforderungen auf allen Ebenen gehabt. Relativ früh ist die Entscheidung gefallen, die Kutschenhalle komplett umzugestalten, um den Perspektivwechsel von vornherein beim Betreten der Halle klarzumachen: Hier sieht etwas anders aus. Das war für unsere Kolleg*innen eine große Herausforderung. Wir haben gemerkt, dass wir mit dem Bewegen der Kutschen bei allen etwas bewegt haben. Das hat auch etwas mit uns als Team gemacht. Alle mussten sich doch sehr viel stärker in diesen ganzen Umbauprozess mit einbringen, als wir das bisher im Haus gehandhabt haben. Wir waren uns von vornherein völlig darüber im Klaren, dass die Rolle von Museen in der Öffentlichkeit immer die ist: Was dort gesagt wird, was dort in den Texten steht, was man dort zu hören bekommt, das ist richtig. Das ist aber bei einem solchen Thema, das so komplex ist und vor allem davon lebt, dass es aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird und betrachtet werden muss, nicht der Weg, den wir gehen können. Wir können uns nicht hinstellen, aus unserer weißen Perspektive, und die Geschichte erzählen, die fehlenden Aspekte erzählen. Darüber sind wir uns im Klaren gewesen. Damit gehen wir auch offensiv um und sagen: Wir haben uns bemüht, haben uns im ganzen Prozess immer wieder hinterfragt und haben uns auch Rat geholt. Wir haben eine Community an unserer Seite, die uns immer mit Rat und Tat zur Seite stand und mit denen wir bestimmte Ideen oder Fragestellungen besprochen haben. Und trotzdem wollen wir das an dieser Stelle ganz deutlich sagen, denn wir sind noch nicht – wir sind ein rein weißes Team –, wir sind aber noch nicht mal anders divers. Wir haben da großen Nachholbedarf und großes Interesse an anderen Sichtweisen, an anderen Perspektiven.
IDD: Aus welchen Personen bestand die Community, die den Prozess begleitet hat?
Rünger: Das ist vor allem die Generation Postmigration. Ein Dachverband, der viele einzelne, kleinere Vereine und Initiativen beherbergt; wir sind vor allem mit den Mitgliedern des Vorstandes im engen Austausch. Und wer vielleicht bei unserer Ausstellungseröffnung war, der hat Tchadarou Abdoul kennengelernt, mit dem wir uns regelmäßig austauschen, der an unserer Seite ist, wenn es darum geht, Fragen zu beantworten und eben auch über bestimmte Themen zu sprechen.
IDD: Und wann war der Zeitpunkt, wo Sie mit der Generation Postmigration begonnen haben, auch zusammenzuarbeiten? Von der ersten Idee an?
Schwark: Nein, das war im Verlauf des Entwicklungsprozesses. Und zwar vor allem ab der Frage, wie man ganz bestimmte Phänomene oder Sachverhalte bezeichnet. Da gab es wirklich tiefgreifende Diskussionen, wie stellen etwas dar? Und manchmal kommen Besuchende auf uns zu und sagen: „Wir erfahren ja gar nicht so viel von den Sklaven, wie die so gelitten haben. Und diese ganzen Grausamkeiten. Überhaupt die Darstellung von vor allem Schwarzen Menschen, das fehlt uns hier in der Ausstellung. Das müsste man doch auch eigentlich sagen.“ Da haben wir – und das auch im Dialog mit Vertretern der Community – uns dazu entschieden, das nicht zu zeigen. Wir zeigen keine gequälten Menschen. Und wir sind dafür kritisiert worden, dass wir es nicht machen. Kritik ist ok, da kann man sich miteinander auseinandersetzen. Aber uns war es wichtig, diesen Weg abzusichern. Und mit den Menschen zu sprechen, die sich davon möglicherweise verletzt fühlen, die sich möglicherweise dadurch auch an Dinge erinnert fühlen, die sie nicht mehr sehen möchten. Und das muss man respektieren. Wir berühren bei diesem Thema, insbesondere wenn es um Sklaverei oder koloniale Systeme und Kontext geht, einen großen Bereich von Sensibilität. Wir sind sehr dankbar, dass es immer die Community an unserer Seite gegeben hat. Das geht beim Wording los. Wir haben so ein kleines Glossar in die Ausstellung gebaut – übrigens auch ergänzungsfähig. Und es ist nicht egal, welches Wort man benutzt für einen Sachverhalt, oder um einen Umstand zu beschreiben. Es ist überhaupt nicht egal, weil eine bestimmte Wortwahl – damit meine ich nicht nur das N-Wort; es gibt viele andere Begriffe, die etwas auslösen – Emotionen auslösen kann.
IDD: Wie spiegeln sich diese Überlegungen während des Entstehungsprozesses in der Ausstellung wider?
Schwark: Im Eingang der Ausstellung gibt es einen großen Bücherstapel – er symbolisiert die Arbeiten und Untersuchungen zu dieser klassischen Betrachtungsweise „Wir waren König“. Und dann einen kleineren Stapel für die Forschung zum Thema Kolonien, Kolonialismus und koloniale Kontexte, die aber sehr begrenzt ist. Und dann heißt Ausstellung ja: Etwas zeigen. Was zeigen wir denn nun? Was stellen wir denn eigentlich aus? Das ist natürlich eine Herausforderung. Wir haben eine Reihe von Objekten, die in kolonialen Kontexten relevant sind und eine Aussage beinhalten. Ich zitiere immer ganz gerne unsere Schiffskanonen, die dort herumstehen. Wenn man sich diese Stücke nochmal genau anguckt, dann stellt man fest: Das sind Schiffskanonen, mit denen ein Schiff der East India Company bewaffnet gewesen ist. Und Schwupps kriegen wir plötzlich eine neue Relevanz. Eine Relevanz der Objekte für dieses Thema.

IDD: Die Objekte in der Ausstellung stammen größtenteils aus Hannover, richtig? Wollten Sie aus Ihrer Sammlung heraussuchen, was aus Hannover beizusteuern ist? Oder war es im Konzeptionsprozess herausfordernd, Leihgaben aus Bristol einzuholen?
Rünger: Wir haben – und da sind wir ganz stolz drauf – ein herausragendes digitales Objekt aus Bristol. Das ist ein „account book“ des Handelsschiffes „Africa“, das an dem Dreieckhandel beteiligt war, das wir digital aufbereitet haben. Man kann sich als Besuchende selber in das digitale Buch vertiefen und die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Dimensionen dieses Welthandels exemplarisch nachvollziehen. Ansonsten ist es tatsächlich der Objektlage geschuldet, deswegen bedienen wir uns auch dem ein oder anderen Hilfsobjekt, wie zum Beispiel der Autobiografie von Olaudah Equiano, dessen Schicksal wir daran festmachen und darstellen. Aus seiner Biografie haben wir auch eine Hörstadion generiert, in der eben er als einer der Unterdrückten, als einer der Leittragenden dieses Systems thematisiert wird. Da haben wir die Erstausgaben aus Göttingen und auch aus der Landesbibliothek in Deutsch und Englisch und versuchen eben auf diesem Weg, die Geschichte zu illustrieren.
Schwark: Letztlich ist es natürlich immer schön, von so einem Partner wie unseren Kolleg*innen in Bristol etwas zu bekommen, was die Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt. Aber dann haben wir uns gefragt: Was kann das eigentlich bringen? Wenn wir eine Fußfessel oder so etwas entleihen und dann hier in eine Vitrine packen – das ist dann Bristol. Wichtiger war es, uns der wirklich umfangreichen Kenntnisse und Erkenntnisse der Bristoler Kolleg*innen zu bedienen, weil es bei uns daran fehlt. Seit über 30 Jahren forschen die Kolleg*innen in Bristol an dem Thema. Und bringen das auch ins Museum, popularisieren sozusagen die Erkenntnisse. Das eben erwähnte Geschäftsbuch war wichtig, denn wir haben uns gefragt: Was bringt es eigentlich, wenn wir das Original in eine Vitrine packen? Bücher muss man lesen und das kann man nicht. Das Buch ist außerdem auf Englisch und dann kommen die Besucher*innen und gehen daran vorbei und sagen: „Eh, alte Schrift, Englisch, ich gehe zum nächsten Objekt. Da muss ich mich nicht mit belasten.“ Stattdessen haben wir gesagt: Dann machen wir dieses Blättern des Buches mit den Möglichkeiten, die die Elektronik bietet, möglich. Und weisen auf ganz bestimmte Dinge, die wir als Historiker*innen daraus lesen, hin und machen sie per Knopfdruck erfahrbar. Und dass man Hintergrundinformationen dazu bekommt. Wir nehmen zu all den Sachquellen, die ja eigentlich unser Job sind im Museum, auch nochmal eine Schriftquelle als aussagekräftiges Dokument und führen diese vor, machen sie konsumierbar.
IDD: Gehen wir über zu der Frage, warum dann andere Dinge abgedeckt worden sind. Wie es zu dieser Idee und der Entscheidung gekommen?
Rünger: Die Idee, die uns durch den gesamten Gestaltungsprozess begleitet hat, ist die des Perspektivwechsels: wir wollen diesen Perspektivwechsel vollziehen und deutlich machen. Und das kann man natürlich in ganz vielen Texten immer wieder betonen, aber man kann auch versuchen, das durch eine Inszenierung zu transportieren. Und das kann man, das war zu mindestens unsere Überzeugung, indem man die Inszenierung und die Gestaltung fast schon auf den Kopf stellt. Indem man die Herrscher, die Könige und ihre Königinnen nicht in der ganzen Pracht darstellt, die wir sonst gezeigt haben – auch in der Kutschenhalle. Große Gemälde mit aufwendigen Rahmen – nicht auf Augenhöhe, sondern immer auch deutlich höher als alles andere aufgehängt, sodass man hochgucken musste. Und wir haben sie jetzt einfach mal heruntergeholt. Wir haben sie vielleicht vom hohen Ross geholt, wir haben sie vielleicht auch einfach an die Wand gelehnt und gesagt: „So, die Zeit ist jetzt vorbei.“ Wir schauen mal, was es noch zu erzählen gibt zu diesen Herrschenden, was in dieser Zeit noch passiert ist. Und wir wollen den Fokus verengen auf diese Themen, auf diese Aspekte, die uns wichtig sind. Das haben wir mit dem Leitobjekt dieser Ausstellung, mit der Kutsche, gemacht, indem wir sie einfach mal verpackt haben und sie eben nicht in ihrer ganzen Pracht dargestellt haben, sondern den Blickwinkel konzentriert haben auf eine Abbildung, auf eine der Türen. Als Kernaussage für den Beginn dieser Ausstellung. Und nur ganz nebenbei: Wer die Kutsche vermisst und sagt, „Ja, das habe ich alles verstanden, aber ich möchte trotzdem sehen: Was ist da noch? Ich glaube, da sitzt ein Einhorn, da ist ein Löwe zu sehen, aber ich kann das jetzt durch diese Verpackung gar nicht richtig wahrnehmen“, der kann das alles sehen, denn die Kutsche ist noch da. Sie ist digital da, da kann man sich alles genau angucken. Wir wollen ja niemandem was wegnehmen.


Unter dem Motto „Perspektivwechsel“ sind von einem der Prunkstücke des Historischen Museums – der goldene Kutsche – in der Ausstellung nur ausgewählte Teile zu sehen, Quelle: Historisches Museum Hannover.
IDD: Haben Sie das Gefühl, dass das verstanden worden ist von dem Großteil der Besucher*innen?
Rünger: Ja, und zwar spätestens dann, wenn man sich auf den Weg auf die Empore macht und auf dem Treppenabsatz sieht, dass da noch viele Gemälde stehen, die verpackt sind. Da ist mir schon aufgefallen, dass wenn ich mit Besuchenden da hochgehe, oder wenn ich selbst in der Kutschenhalle bin und beobachte, dass dann spätestens an der Stelle die Rückmeldung kommt: „Ach, hier sind ja noch mehr verpackte Gemälde. Da ist eine Idee dahinter, jetzt habe ich es verstanden.“ Ich glaube, das ist auch dem geschuldet, dass man wahnsinnig viele Eindrücke verarbeiten muss, wenn man in die Kutschenhalle reinkommt. Da hat man an der Stelle so ein bisschen Luft, geht nach oben und sieht dann, dass sich das dort wiederholt – spätestens dann springt der Funke über.
IDD: Gleichzeitig haben wir auf der Feedbackwand am Ende der Ausstellung gelesen, dass die Aufkleber nicht von allen verstanden wurden und das Gefühl aufkam, dass die so ein bisschen wahllos verteilt und nicht vernünftig erläutert seien. Wie würden Sie dazu stehen?
Schwark: Erstmal ist die Intention vielleicht nicht ganz klar. Aber wir verfallen ja, wenn wir das nicht machen würden, wieder in eine Art Präsentation: Da ist ein Kunstgegenstand, eine Grafik oder ein Gemälde oder etwas Ähnliches. Wofür steht das eigentlich? Und dieser Hinweis, dass Objekte keine lineare Bedeutung haben, sondern immer auch anders betrachtet werden sollen, müssen und können, soll mit den Aufklebern geleistet werden. Dass man zu den Besucher*innen sagt: Denkt doch nochmal darüber nach, was hier eigentlich drauf ist.

IDD: Wir würden gerne nochmal über die Rolle Hannovers in der Ausstellung sprechen. Sie sagten, oben auf der Empore geht es um die Verbindung zu Großbritannien und die Dinge, die Hannover durch diese Verbindung erhalten hat. Würden Sie die Kritik teilen, dass die Rolle Hannovers ein bisschen untergegangen ist in der Ausstellung?
Schwark: Die einen sagen so, die anderen sagen so. Manche sagen: „Das ist zu hannoversch, zu Hannoverlastig. Eigentlich wollen wir die Kolonien, wir erwarten hier was ganz anderes – die Kolonisation und diese Phase im großen Zugang. Und dann fehlt uns eben auch die deutsche Kolonisation, was dann noch eher etwas mit uns zu tun hat. Wenn wir Folgen von kolonialen Kontexten und Strukturen haben, dann sind es ja meistens die Folgen aus diesem Abenteuer des Kaiserreiches, sich Kolonien zuzulegen. Das haben wir erwartet! Eine Vitrine, das ist zu wenig! Was soll das eigentlich? Wir wollen einen großen Zugang dazu haben!“ Und nein, Hannover war uns von vornherein wichtig. Vor allem wegen der Personalunion: man kann von dynastischen Zufällen sprechen, irgendwie ist Hannover reingestolpert in die Rolle, plötzlich Könige von Großbritannien zu stellen und dann auch noch in den Entwicklungszusammenhang, dass spätestens ab Mitte des 18. Jahrhunderts Großbritannien so eine besondere Rolle spielt. Was haben wir eigentlich damit zu tun? Was haben Initiativen damit zu tun? Das ist die große Frage, nach der auch immer schon die herkömmliche Forschung fragt. Aber diese anderen Fragen – was haben wir als Hannoveraner mit Kolonialismus zu tun? Sind Hannoveranerinnen und Hannoveraner, in welcher Gesellschaftsebene auch immer, betroffen gewesen? Sind sie beteiligt gewesen? Sind sie Nutzer, sind sie Initiatoren gewesen? Sind sie Profiteure gewesen? Und da, finde ich, muss jetzt Forschung mal richtig ran.
IDD: Ich würde gerne auf die digitale Ausstellungsvariante eingehen: Uns würde interessieren, was damit passieren soll. Sie deuteten an, es passiert nach der Ausstellung hier im Haus noch mehr auf digitaler Ebene?
Schwark: Die Ausstellungswebsite soll mehrere Zwecke erfüllen: Zum einen sind wir der Meinung, dass es zwar sicherlich schön ist, wenn man aus einer Ausstellung herausgeht und so einen dicken Katalog unter dem Arm mit nach Hause nehmen kann – eine nachhaltige Variante ist das aber nicht wirklich. Und hinzukommt: Wenn ein Katalog in den Druck geht, ist er schon wieder veraltet. Das bildet einen Stand der Diskussion ab, den wir nicht mehr nachpflegen können. Und das war uns wichtig – zu sagen: „Diese Ausstellung ist der Beginn von etwas. Oder diese Ausstellung bietet eine Plattform, um wieder in Diskussionen zu kommen.“ Stichwort „Carl-Peters-Denkmal“ an dieser Stelle. Und eine Website ist eben jederzeit erweiterbar. Die Inhalte können jederzeit ausgetauscht werden, ergänzt werden, verändert werden. Das ist eine dynamische Form, mit der man aktuell bleiben kann. Und das war uns wichtig, mit dieser Website jetzt, wenn die Ausstellung auch wieder abgebaut wird und auch das Museum im nächsten Jahr möglicherweise schließt, weiterhin eine Plattform zu haben, um über dieses Thema im Gespräch zu bleiben.
IDD: Wir haben eben schon über die Feedback-Zettel am Ende der Ausstellung gesprochen. Was war für Sie das Feedback oder die Anmerkungen von Besucher*innen, die Sie am meisten zum Nachdenken gebracht haben?
Rünger: Zum einen ganz praktisches Feedback: „Die Ausstellungstexte sind zu tief. Haben Sie eigentlich gar nicht an die Senioren gedacht, die sich nicht mehr so bücken können?“ Das haben wir sehr ernst genommen. Wir haben einzelne Objekttexte nachdrucken lassen und nochmal anders angebracht in der Ausstellung. Natürlich hatte diese Verteilung der Objekttexte auch ästhetische Gründe. Aber die praktische Anwendung ist dahinter wohl manchmal ein bisschen sehr zurückgefallen und da haben wir nachgearbeitet, haben die Situation verbessert. Es gibt auch Post-its, die uns darauf hinweisen, dass wir bestimmte Aspekte vergessen haben, dass Besuchenden der eine oder andere thematische Ansatz fehlt – wie zum Beispiel, dass die Rolle der Kirchen nicht dargestellt worden ist in der Zeit. Das versuchen wir dann in den Führungen aufzugreifen, da nehmen wir diese Aspekte mit und lassen sie zumindest in der Form nochmal mit einfließen. Denn eine Ausstellung zu konzipieren, zu organisieren und umzusetzen bedeutet natürlich auch immer, Schwerpunkte zu setzen.

Schwark: Die Rolle der Kirchen – sowohl der katholischen als auch der evangelischen und auch übrigens so mancher Freikirchen – ist ja nicht unerwähnt geblieben. Aber die Perspektive der Verantwortung auch für Sklaverei und der Legitimierung von Versklavten und ihrer Zustände, die kommt in der Tat zu kurz.
IDD: Für die Dauerausstellung nach den Sanierungsmaßnahmen ist das Thema Kolonialismus und Dekolonialisierung ja sicherlich gesetzt. Oder ist es noch gar nicht so klar, ob das dann weiterhin thematisiert wird?
Rünger: Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht sagen. Aber was wir sagen können, ist, dass die Diskussion in der Öffentlichkeit wieder Fahrt aufnimmt. Denn es gab eine Anhörung im Kulturausschuss und den politischen Willen und Auftrag, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und die Dekolonisierung dieser Stadt voranzutreiben. Und all das, was mit Stadtgeschichte zu tun hat, mit der Entwicklung dieser Stadt, geht nie ohne das Historische Museum.
Schwark: Es gibt ein Konzept für die neue Dauerausstellung. Dieses Konzept ist schon fast zehn Jahre alt und wird angegraut sein, wenn die Umbaumaßnahmen fertig sind und es darum geht, die Ausstellung zu implementieren. Und ich glaube nicht, dass dieses Konzept realisiert wird. Das kann gar nicht sein, denn die Welt dreht sich, in Hannover passiert viel und – das einer der Gründe, warum die Communities für uns so wichtig sind – die Menschen in ihrer Zusammensetzung verändern sich. Wir haben mehrere Vorstöße gemacht, zum Beispiel die Arbeitsmigranten miteinzubeziehen. Diese bunte und vielfältige Gesellschaft aus der Zuwanderungssituation, der wir uns ja immer bewusster werden, abzubilden, das ist auch die Verpflichtung dieses Hauses, sonst bleibt es irgendwo stehen mit der Dokumentation von Stadt- und Landesgeschichte. Und das kann nicht sein, das muss sich weiterentwickeln. Dieses ist bis auf Weiteres ein weißes Museum. Aber das soll es nicht bleiben. Das darf es auch nicht bleiben, wenn es im Sinne von Aktualität, von Relevanz die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Geschichtlichkeit abbildet: Dann muss hier ein buntes Museum entstehen.
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iddredaktion (18. November 2022). Koloniale Spuren in Hannover. Interview mit den Ausstellungskurator*innen Thomas Schwark und Katharina Rünger. Abseits der Fußnote. Abgerufen am 9. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/ptj1